Epikureïscher Wunsch nach dem wirklichen Leben
Wenn ich mit dir zusammen, teurer Martialis,
sorgenfreie Tage genießen dürfte,
wenn ich in Muße über die Zeit verfügen
und für ein wirkliches Leben gemeinsam mit dir frei sein könnte,
dann bräuchten wir nichts von den Hallen und Palästen der Mächtigen zu wissen,
nichts von tristen Prozessen und dem trübsinnigen Forum
und nichts von den stolzen Ahnenbildern,
sondern Promenieren, Plaudern, Bücher,
Marsfeld, Säulenhalle, Schatten, der Jungfrauenbrunnen, Thermen,
das wären stets unsere Treffpunkte, das unsere Aktivitäten.
Jetzt lebt keiner von uns beiden ein ihm gemäßes Leben, und wir spüren,
daß glückliche Sonnentage entfliehen und entschwinden,
die uns verlorengehen und doch angerechnet werden:
Zögert da einer noch, wo er doch weiß, was Leben heißt?
Freundschaft – der wahre Reichtum
Ein geschickter Dieb kann deine Truhe aufbrechen und dein Geld daraus stehlen,
ein unbarmherziges Feuer dein väterliches Haus zerstören,
ein Schuldner den Zins samt dem Kapital abstreiten,
ein unfruchtbares Feld die ausgestreute Saat verweigern;
eine tückische Geliebte den Verwalter ausplündern,
Wellen können deine Schiffe, auf denen Waren sich stapeln, versenken.
Dem Zufall [fortunam] entzogen ist nur, was man Freunden schenkt:
Allein Schätze, die du gibst, wirst du für immer haben.
Schenken
Wie irritierend ein Martial-Gedicht zwischen ernster und heiterer Note oszillieren kann, zeigt etwa das Epigramm 5,42. Einem namenlosen Du führt es vor Augen, welchen Wechselfällen irdischer Besitz anheimgegeben ist. Der einzige „auf immer“ sichere Besitz sei der, den man Freunden schenke. In diesem Paradox sieht P. Barié einen epikureischen Topos umgesetzt: die Idee, „dass Schenken bereichert und dass Freundschaft und Freigiebigkeit die einzigen Werte von Dauer sind“ (AU 43/3, 2000, 15). Das ist zweifelsohne richtig – und unter- wie überschätzt zugleich diesen doppelbödigen Text. Denn sein Schlussvers (quas dederis solas semper habebis opes) erinnert frappant an Jesu Wort vom Schatz im Himmel (Lukas 18,22), das einem hellhörigen Beobachter wie Martial in Rom durchaus einmal zu Ohren gekommen sein könnte. Zugleich aber ist das Gedicht schlitzohrige Handlungsanweisung an das namenlose Du: ‚Also her mit den Geschenken!‘